Die Feier des hundertfünfzigsten Geburtstags des Komponisten Emil Sjögren im Jahre 2003 war der Anlass, eine Emil-Sjögren-Gesellschaft zu gründen. Sjögren, eigentlich kein Unbekannter in Schweden - seit jeher respektiert und heute vielleicht sogar noch mehr gesungen und gespielt als vor zwanzig Jahren – verdient eine gezieltere Förderung als die, die ihm bisher zuteil wurde. Er komponierte hauptsächlich Lieder, Klavierwerke, Violinsonaten und Orgelmusik, und Organisten, Sänger, Kammermusiker und Musikwissenschafter, die ein vertieftes Interesse an seiner Musik haben, brauchen ein Forum.

Hier soll nun, aus verschiedenen Blickwinkeln, ein fragmentarisches Bild des Lebens und der Persönlichkeit des Komponisten gezeichnet werden.

Emil Sjögren und Stockholm
Emil Sjögren war Stockholmer, auch wenn seine Eltern aus der Provinz stammten. Sein Vater, ein Kleiderhändler aus Kalmar, starb, als Emil zehn Jahre alt war, worauf seine Mutter begann, ein Pensionat an der Drottninggata 81 in Stockholm zu führen, um die Familie durchzubringen. Diese betont weibliche Umgebung beeinflusste Emil: Da waren seine Mutter, seine Grossmutter mütterlicherseits und Freundinnen der Mutter, wie z. B. Hilda Klein, die im Pensionat wohnte und viel Energie darauf verwendete, den jungen Musiker richtig zu erziehen. Ihre nahe Freundschaft widerspiegelt sich in Briefen, die er ihr von seinen Studienaufenthalten im Ausland schickte. Diese nahe und gefühlsvolle Beziehung, welche die Briefe bezeugen, wiederholt sich auch im Verhältnis Sjögrens zu anderen weiblichen Bekannten und scheint sehr wichtig für ihn. Er funktionierte Zeit seines Lebens am besten in privater, intimer Umgebung, in Familie und Haus. Er war und wollte keine öffentliche Person sein, wie z. B. seine jüngeren Kollegen Peterson-Berger, Stenhammar und Alfvén.

Emils Musikbegabung wurde von Ludvig Ohlson, Organist und Klavierhändler, entdeckt, als er fünfzehn Jahre alt war. Ebendieser vermittelte ihm eine Anstellung in Dannstöms Klaviergeschäft in der Regeringsgata, die er bis zu seinem dreissigsten Lebensjahr innehatte. Wenn man seiner und der Erinnerung anderer Glauben schenkt, schätzte er diese Arbeit nicht und führte sie auch nicht besonders gut aus.

In Stockholm erhielt Sjögren auch seine musikalische Grundausbildung. Ludvig Ohlson veranlasste, dass er ins Konservatorium eintrat. Seine Studien dort verliefen sehr erfolgreich. Zusammen mit zwei Studienkollegen, dem Pianist Richard Andersson und dem Sänger Johannes Elmblad, bildete er eine kleine verschworene Gemeinschaft, kritisch eingestellt gegenüber Traditionen und gewillt sich hervorzutun. Elmblad wurde bald zu einem vielgereisten Künstler, und Anderson gründete seine bedeutungsvolle Musikschule in Stockholm, an der viele Neuerungen aus dem Ausland eingeführt wurden. Unter den jungen Malern, genannt „Opponenterna“, fanden sich mehrere persönliche Freunde Sjögrens, u.a. Ernst Josephson und Carl Larsson. Letzterer erzählt in seinen posthum herausgegebenen Memoiren:

„Sein stilles und zurückhaltendes Wesen eroberte mich schon bevor ich ihn spielen hörte. Bald darauf wurden wir gute Freunde und er nahm mich mit zu seiner Mutter, wo er stundenlang Klavier spielte. Wenn er aber mich besuchte, da spielte er nicht Klavier, sondern wir tranken die Flasche Cognac, die er dabei hatte. Der arme Kerl litt an einer beschwerlichen Hautkrankheit und er hatte gelernt, das schreckliche Jucken im Alkohol zu ertränken…“.

Larsson spricht hier zwei Schattenseiten in Sjögrens Leben an: seine äusserst schwere Psoriasis, die ihn von anderen Menschen isolierte, und seinen Alkoholkonsum, der sowohl durch seine Krankheit als auch durch seinen Umgang mit Künstlern bedingt war. Sjögren blieb im Pensionat seiner Mutter bis zu deren Tod. Darauf, nach einigen kritischen Jahren, ehelichte er 1897 die dreizehn Jahre jüngere Berta Dahlmann. Das Paar zog von Stockholm weg, zuerst 1903 nach Malmsjö gård in Sörmland, dann einige Jahre später in die Gegend von Södertälje und schliesslich 1910 nach Knivsta in die Villa Ovansjö. Diese Zuflucht in ländliche Gegenden kann leicht als Versuch Bertas interpretiert werden, Emil aus der alkoholgetränkten Atmosphäre Stockholms zu retten.

Eine andere Verbindung zu Stockholm blieb jedoch erhalten: 1891 wurde Emil Sjögren Organist an der neu gebauten Johanneskirche. Diesen Dienst hielt er bis zu seinem Tod inne. Er war kein eigentlich engagierter Kirchenmusiker, aber die Abendgottesdienste in der Kirche mit seinen lyrischen und mächtigen Improvisationen an der Orgel waren berühmt und beliebt im Stockholmer Musikleben.


Emil Sjögren und Paris
Im Frühling 1901 fuhr das Paar Sjögren für einige Monate nach Paris. Sie wohnten in einem Pensionat in der Gegend des Jardin du Luxembourg, wo viele Schweden abstiegen. Diese Reise war nicht der erste Parisaufenthalt Emil Sjögrens. Er hatte dort im Frühling 1885 schon einige Monate gewohnt, während einer dreijährigen Bildungsreise zusammen mit seinem Freund P.E. Lange-Müller. Sechzehn Jahre waren seit dem vergangen und Sjögren hatte sich einen Namen geschaffen. Sogar in Paris war seine Violinsonate e-moll einige Male aufgeführt worden. Die erneute Reise von 1901 hatte zwei Gründe: einerseits, um die neue französische Musik kennen zu lernen, andererseits, um selbst bekannt zu werden in der damaligen grossen europäischen Metropole, in der viele nordische Künstler, Musiker und Schriftsteller über kürzere oder längere Zeit gewohnt hatten.

Der Norden weckte damals grosses Interesse in Paris. Henrik Ibsens und August Strindbergs Dramen wurden auf einigen modernistischen Bühnen inszeniert, und auch Edvard Grieg war beim Pariser Publikum bekannt und beliebt. Grieg selbst wies darauf hin, dass die nordischen Komponisten der französischen Musik dankbar sein sollten, die in seinen Augen ein Gegengift war gegen die überromantisierende, schwülstige deutsche Musik nach Wagner. Auch Ravel hatte sich seinerseits anerkennend gegenüber der nordischen Musik geäussert, indem er betonte, dass die jungen französischen Komponisten sich um die Jahrhundertwende wichtige Inspirationen aus der Musik Griegs holten.

Auch nach 1901 reisten die Sjögrens regelmässig, nämlich fast jedes Jahr bis 1914, nach Paris, entweder einige Monate im Frühling oder die ganze Wintersaison (für seinen Organistendienst an der Johanneskirche hatte er jeweils einen Stellvertreter). Emil sprach nicht besonders gut französisch, ganz im Gegensatz zu Berta. Es gelang ihr, Türen zu öffnen und Kontakte zu denjenigen Personen zu schaffen, die wichtig waren, um Konzerte in einem anderen Land zu organisieren. Sie nannte sich selbst „Reisesekretärin“, war aber eigentlich ein Impresario für ihren Mann.

Der Plan war, dass Emil Sjögren in Paris mit eigenen Konzerten bekannt werden sollte. Das erste Konzert fand denn auch am 28. Mai 1901 in der angesehenen Salle Pleyel statt. Auch der junge Jacques Thibaud, einer der grössten Geiger des 20. Jahrhunderts, war anwesend. Wer genau dieses grossartige Konzert initiiert hatte, ist nicht dokumentiert, es ist aber bekannt, dass es in Schweden einen Freundeskreis der Musik Sjögrens gab, der hier aktiv gewesen sein könnte. Nathan Söderblom, Pfarrer der Schwedischen Kirche in Paris bis 1901, könnte ein Drahtzieher gewesen sein, genau so wie einige der viele schwedische Sängerinnen, die damals in Paris wohnten. Oft förderten Freunde Sjögrens Karriere.

Zwölf Sjögrenkonzerte folgten in Paris bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs.

Die meisten fanden in kleineren Konzertsälen oder in halbprivaten Salons statt, eine Ausnahme war das Konzert 1908 in der Salle Gaveau. Die Konzerte begannen immer mit einer Violinsonate, gefolgt von Liedern und Klavierkompositionen. Viele Künstler wirkten mit, unter anderen der grosse Geiger George Enescu, der sich aktiver für Sjögren einsetzte als Thibaud und dem auch die fünfte Violinsonate gewidmet ist.

Kein anderer schwedischer Komponist wurde im Ausland so gefördert und so gut aufgenommen. In der Statistik der Konzertsaison 1912-13 ist Sjögren zwölf Mal aufgeführt, der einzige Skandinavier ausser Grieg, dessen Musik dreiundachtzig Mal gespielt wurde. Er wurde 1910 in einer Pariser Zeitung der „bekannte schwedische Meister“ genannt und in Lavignacs grossem Musiklexikon, gedruckt 1922, werden seine Werke als „oft in Frankreich gespielt“ betitelt. Die Violinsonate e-moll war das meistgespielte Werk, ihm folgte das Lied „Alt vandrer Maanen“, in einem damals populären Arrangement mit obligater Violine. Die Texte vieler Sjögren-Lieder wurden vor den Konzerten auf Französisch übersetzt. Die Übersetzungsarbeit vervollständigte schliesslich Berta für eine geplante Ausgabe der gesammelten Lieder. Aber die Zeit verging und das Interesse an Sjögrens Musik in Frankreich verblasste. Die Lieder wurden in Schweden 1949-53 herausgegeben, worauf einige Jahre später eine Ausgabe der fünf Violinsonaten folgte.

Emil Sjögren und Knivsta
1910 kauften Emil und Berta Sjögren sich ihr erstes Haus: Die Villa Ovansjö in Knivsta, wo sie bis zu Emils Tod 1918 lebten. Das kleine elegante Haus, erbaut um die Jahrhundertwende, war schön und ein wenig einsam am Strand des Sees Vallox gelegen, auf einem Grundstück mit Garten und Wald. Stockholm war mit dem Zug gut zu erreichen, eine Voraussetzung für Sjögrens Organistenamt.

Das Sjögrensche Heim hatte mit dem Städtchen Knivsta nicht viel zu tun, ausser dass es der Arbeitsplatz von einigen Angestellten war. „Widén“ pflegte den Garten,  und „Fräulein Hildur“ und „Frau Pettersson“ machten den Haushalt. Die Villa Ovansjö wurde zum Treffpunkt für Sjögrens Freunde und Musikerkollegen, u. a. Berühmtheiten wie Nathan Söderblom, Wilhelm Stenhammar und John Forssell. Sehr wahrscheinlich stand Emil Sjögrens eigene Musik im Mittelpunkt der Aktivitäten in der Villa Ovansjö. Berta und andere Freunde haben die Atmosphäre in der Anthologie „Musikmänniskor“ beschrieben und heben die Qualitäten Sjögrens als Gesprächspartner hervor. Er diskutierte mit seinen Gästen lieber über Literatur und Geschichte als über Musik. „Die Unterhaltungen mit ihm sind spannend, gespickt mit tiefsinnigen Gedanken, Paradoxa, Anekdoten und vielen sympathischen Wortspielereien. Die Wortwahl – niemals trivial – ist persönlich und sogar in phonetischer Hinsicht durchdacht, die Sätze (mit den Jahren immer kürzer) sind reflektiert und geformt.“

Wenn die Gäste weggefahren waren und der Alltag wieder einkehrte, waren die Gewohnheiten in der Villa friedvoll. Emil komponierte und las, gerne rezitierte er auch für andere und beeindruckte durch lebendige Gestaltung von Dialogen und Personen.

Villa Ovansjö exisitert auch noch heute – nun bekannt unter dem Namen „Gula villa“ (Gelbes Haus) und wird als Vereinshaus gebraucht (es liegt passend an der Emil-Sjögren-Strasse). Im Garten steht seit 1985 eine kleine Statue von Eric Ståhl, im Gedächtnis an den Komponisten.

Emil Sjögren und der Ruhm
Emil Sjögren war zu seiner Zeit in Schweden berühmt. Warum aber verblasste sein Ruhm mit den Jahren, ganz anders als der von seinen Kollegen Hugo Alfvén, Wilhelm Peterson-Berger oder Wilhelm Stenhammar?

Sjögrens Bekanntheit wuchs in den 1880er Jahren. Seine zweite Violinsonate hatte am Nordischen Musikfest in Kopenhagen1886 auf ihn aufmerksam gemacht, so u. a. auch Grieg. Viele Musiker sahen schon seit langem ein vielversprechendes Talent in ihm. Die Gunst des Publikums sollte ihm aber erst eine Dekade später zufallen. Die svensk musiktidning, die damals wichtigste schwedische Musikzeitschrift, schrieb anfänglich, dass Sjögren „von der Allgemeinheit nicht verstanden“ war. Diese Meinung hielt sich bis in die 90er Jahre. Mitte 90er Jahre wurde er dann mit dem Prädikat „der Beste“ beehrt. Ein Kritiker schrieb 1901 über sein Lied „En drömackord“ (ein Traumakkord):“Es ist zwingend, dass Schwedens bester Komponist ein Gedicht des besten Schwedischen Dichters vertonen muss!“. Strindberg schickt Sjögren u. a. sein Gedicht „Vargarna tjuta“ (Die Wölfe heulen) zur Vertonung – nicht als Gedicht, sondern als Melodram – und Verner von Heidenstam erkürt ihn 1899 anfänglich dazu, das Gedicht „Sverige“ (Schweden) zu vertonen, das später in der Vertonung von Stenhammar berühmt wurde.

Um die Jahrhundertwende veränderte sich die öffentliche Wahrnehmung von Sjögren. Strindberg schrieb 1908 in einem Brief an seinen besten Musikerfreund Tor Aulin, der auch ein naher Freund Sjögrens war:“Emil Sjögren, der natürlich komponierte und den Klang der Elemente hörte, ging zu Lindegren und liess sich von den Kirchentonarten einfangen, aber er floh und sang wieder wie ein Vogel in Freiheit – für eine gewisse Zeit! Wieso er verstummte, weiss ich nicht, der Herbst kam wohl früher, wie es seiner Natur bestimmt war. Nach ihm haben wir keinen.“. Die Worte sind schön und wertschätzend, aber Strindberg übersieht einige Tatsachen: Der Pädagoge Johan Lindegren war nie Sjögrens Lehrer, und als Strindberg die obigen Worte schrieb, war Sjögren nicht verstummt – er wurde gerade berühmt in Paris und schrieb immer noch hochklassige Lieder und Instrumentalwerke.

Carl Larssons Urteil in seinen Memoiren stimmt mit Strindberg überein – er sagt über Sjögren: „Er war eine einzigartige Persönlichkeit, aber ich hatte immer ein dumpfes Gefühl, dass er – trotz alle dem Schönen, das er geschaffen hat – nicht vermögen werde, die hohe, ja die höchste Stufe zu erreichen, die ihm sicher bestimmt war.“. In seinem feinesgezeichneten Essay zu Sjögren Tod 1918 kommt Rangström zum Schluss, dass Sjögren ein Kulturerbe von höchster Klasse geschaffen hatte, das aber nicht mehr aktuell war in der damals modernistischen Perspektive.

Seit damals gab es für Emil Sjögren keinen eigentlichen Platz mehr in der Musikkultur Schwedens, obwohl Berta sein Arbeitszimmer dem Nordiska museum vermacht hatte. Die wichtige Chorbewegung in Schweden fand bei ihm kein Repertoire – er hatte kein einziges a-cappella-Chorwerk komponiert. Die Organisten schwenken allgemein vom romantischen Ideal zur Neuen Sachlichkeit und zum Barock, die jungen Komponisten legten ihren Fokus entweder auf nationale Strömungen oder auf neue Tendenzen aus den Musikzentren der Welt. Jazz kam ins Land, dann Rock und Pop. Emil Sjögrens Idylle hatte keinen Platz mehr in alldem, obwohl sie künstlerisch in sich selbst durchaus spannend war. Sie lag abseits, respektiert aber ohne grosse Nachfrage.

Aber diese Sicht der Dinge ist in den letzten Jahrzehnten verblichen. Die Komponisten bedienen sich heute aller möglichen Stile, nicht zuletzt auch des romantischen, ohne deswegen verurteilt zu werden. Deshalb sind Sjögrens Werke heute aus verschiedenen Betrachtungswinkeln schätzenswert, nicht nur als „Kulturerbe“. Sein Platz als wichtiger Komponist des schwedischen Liedes ist gewährleistet; seine Lieder behaupten ihren Platz in vielen Liedanthologien neben Grieg, Sibelius und Rangström. Mit anderen Worten: es lag in der Luft, eine Emil Sjögren-Gesellschaft zu gründen.

© 2004 Anders Edling / Översättning Eva Crastan Kaestner